Okay, das wird jetzt etwas länger.
Mir hat „May December“ gut gefallen. Wir schon bei „Carol“ und „Far from Heaven“ hat Todd Haynes die Fassade der so beliebten Melodramen der 1950er genutzt, um etwas eigenes zu erzählen. Diesmal allerdings paßt die Geschichte eher in die 1990er, und einige der Stilmittel wirken deplaziert, ich gehe davon aus daß das Absicht war – und dieses Unbehagen, daß da irgendetwas aus der Spur läuft, ist unterschwellig (gelegentlich auch vordergründig) den ganzen Film über zu spüren.
Da ist zunächst das Offensichtliche: Gracie, die als 36-jährige eine Beziehung zu dem 13-jährigen Joe begonnen hatte. Der Film spielt fast ein Vierteljahrhundert nachdem die Affäre aufgeflogen und Gracie schwanger ins Gefängnis gekommen war, insofern ins in Savannah wo sie wieder lebt, Gras über die Sache gewachsen, zumal sie Joe später geheiratet hat. Sie geht mit einer „Who cares?“-Attitüde durchs Leben und die meisten lassen sie gewähren nur die Kinder lassen sie zuweilen auflaufen, und sie bekommt Haßpost. Daß sie das ganze nicht so kalt läßt, wie sie immer tun, kann man aber deutlich „zwischen den Zeilen“ erkennen.
Dann hätten wir da Elizabeth, die Schauspielerin, die nach Savannah kommt, um Gracie für ein realistisches Porträt zu studieren. Es entwickelt sich eine Art Schachspiel zwischen den beiden, denn beide haben unterschiedliche Absichten. Elizabeth möchte Gracie erkennbar ungeschönt und realisisch spielen, wohingegen Gracie auf eine positive Darstellung hofft und versucht, Elizabeth mit Tricks und Auslassungen zu einem besseren Urteilkommen zu lassen. Da ist sie aber an die Falsche geraten, denn Elizabeth ist skrupellos, wenn es darum geht ihre Ziele zu erreichen; und geht dafür zumindest bildlich gesprochen über Leichen. Alles natürlich freundlich, verbindlich und mit einem Lächeln.
Zwischen die Stühle gerät dabei Joe; augenscheinlich ein freundlicher und aufgeschlossener Mann in der Dreißigern, doch das Trauma der Beziehung ins von Anfang an fühlbar (auch wenn es erst spät im Film offen zu Tage tritt). Innerlich ist er immer noch das Kind, das von einer erwachsenen verführt wurde, er wirkt oft nicht älter als seine Kinder, und er steht unter dem Pantoffel von Gracie, die ihn nicht einmal eigene Gedanken zubilligt. So ist er auch 20 Jahre nach der Affäre immer noch das Opfer und die tragische Figur von „May December“. Charles Melton – die ich hier zum ersten Mal als Schauspieler wahrgenommen habe (ich muß ihn schon vorher einmal in „Glee“ gesehen haben, erinnere mich aber nicht an ihn) – spielt Joe perfekt, er schafft es beinduckend das freundliche Äußere und das gebrochene Innere zu verkörpern. Von Moore und Portman wußte man ja schon, daß sie solche schattigeren Figuren spielen können, und sie machen auch diesmal ihre Sache gut.
Warum vergebe ich dann nur eine „2 minus“? Nun, zum einen ist es persönlicher Geschmack, mir lagen „Carol“ und „Far from Heaven“ mehr am Herzen. Aber zuweilen driften Stil und Inhalt auch zu weit auseinander, der an sich gute Soundtrack setzt ein einigen Stellen zu unnötiger Dramatik an – vor allem aber fand ich das der Film zulange braucht, um „zu Potte“ zu kommen, 20 Minuten hätte man da durchaus noch einsparen können. Trotzdem ist es aber für mich der – knapp vor „One Life“ – bislang beste Sneakfilm 2024. Und in meiner allgemeinen Jahresrangliste steht derzeit nur „The Zone of Interest“ besser da.
Gruß
Kasi Mir